Centro Tedesco, Venedig, 1982
Auf der großen Terrasse oberhalb des Canale Grande habe ich eine Arbeitsecke mit Wasser- und Elektroanschluss. Meistens bin ich aber unterwegs, bis an die Ränder der Stadt, sammle Algenmaterial, Postkarten, Notenblätter, Comixhefte. Ich bin beeindruckt von der Rhetorik der Stadtarchitektur und ihrer Bewohner, von der gepflegten Kultiviertheit im Studienzentrum und von den bewegten, lebenden Farben und Gerüchen auf Märkten und in den Läden und Lokalen. Ich bin beeindruckt, wie die Betriebsamkeit und die Raffinesse in Verfall und Zerweichen und in der unbeirrten Langeweile der Gewässer verebbt.
Klaus Heinrich Kohrs : Außenwege, Innenwege
Damerow richtet sich am städtebaulichen Tiefpunkt Venedigs ein, zwischen Natur, Geschichte, Zivilisationsgreueln und Klischees. Er wird für ihn zu einem „Nullpunkt“, in dem die Negativität sich zur Freiheit eines neuen Blicks wandelt. Außen und Innen, Sehnsucht und Desillusionierung, Schönes und Hässliches fließen ineinander: „ Auch am Trochetto fängt Venedig wieder an. Aus dem Anblick der Industriekulisse von Marghera und Mestre, aus der Gegenwart der vielen hier parkenden Autos, aus der Ödfläche, die für noch mehr Busse schon markiert ist, aus diesem Hintergrund orientieren sich die Wege in Richtung Markusplatz, zu den historischen und sentimentalen Attraktionen der Stadtmitte. Wie öfters auch in den Hintergrundszenen von gemalten Bildern kommt in diesem Außenbezirk ein labiler Ausdruck aus Zweifel und Sehnsucht auf, und erklärt das Leben im Zentrum mit. In dem provisorischen und ungepflegten Beieinander von technischer Versorgung und immer wieder verwildernder Natur entwirft sich da der hungerhafte Wunsch, unbehelligt zu sein und schön.
Auf der schräg ins Wasser gebauten Uferbefestigung durchmischen sich angeschwemmtes Algenzeug und weggeworfenes, verlorenes Zivilisationszeug und trocknen bei Sonne und niedrigem Wasserstand zu wilden Häuten auf, zu warm zergärenden Lappen und Paketen. Und bei steigendem Wasser weicht das wieder auf, zerschiebt sich und zerreißt an Stellen.“
Die von ihm auf der Terrasse des Palazzo Barbarigo geschredderten und geschöpften Algenpapiere sind nichts anderes als die Materialisierung dieses neuen, venezianischen Blicks der Verschmelzung; Modell und plastisches Ereignis zugleich. „ Die aus dem angeschwemmten Algenzeug hergerichteten Papier-Häute und Pappen/ Verpappungen trocken auf zu knisternd hart-brüchigen Flächen; bei stärkerer Luftfeuchtigkeit (bei mir im Lager über Winter) geben sie wieder nach zu lappig weicher Lässigkeit, aber eben auch empfindlich auf Zerreißen und Verformen. Und wenn diese Algenformate etwas Feuchte aufgenommen haben, löst sich auch ein leichter Geruch aus, erinnert mit den in den Objekten wirkenden Salzen und Verunreinigungen (die man bei der Herstellung nicht vermeiden konnte) an den Schwemm-Ort, an die Kante des Riesenparkplatzes von Venedig.“
Suspension unversöhnlicher Alternativen, wechselseitige Resonanz, Verflüssigung der Hierarchien, Freiheit des Blicks aus Unvoreingenommenheit des Nullpunkts – sprechen wir von einem Ort, dem wir diese Strukturmerkmale zuschreiben, dann sprechen wir zugleich von einem herausragenden Modell von Kommunikation.
Venezianische Bilder, Köln 1999